Schule des Rades

Dago Vlasits

Wissenschaft vom Ursprung ist der Ursprung von Wissenschaft

Mannigfaltigkeit

Um die Wirklichkeit der sinnlichen Erscheinungswelt zu retten, hat Anaxagoras zur Teilchenhypothese gegriffen, zur Vorstellung der unendlich vielen Splitter parmenidischen Seins. Um den schöpferischen Prozess zu beschreiben, welchen er im wesentlichen als materielle Scheidung und erkennende Unterscheidung auffasste, musste er zum Dualisten werden und den ruhenden Teilchen den bewegenden und bewussten Geist hinzugesellen. Jemandem, der an die Realität der Materie glaubt und gleichzeitig den Geist nicht seiner eigenständigen Wirklichkeit berauben will, scheint wahrscheinlich auch heute noch der Dualismus die einzige Alternative zu sein. Doch das menschliche Streben nach Erkenntnis ist letztlich das Streben nach Erkenntnis der letzten Einheit, auch die Naturwissenschaft sucht nach einer einheitlichen Beschreibung ihres Gegenstandes. Auf die Dauer ist also die dualistische Spannung nicht auszuhalten, entweder man kappt einen Pol weg oder findet eine gemeinsame Wurzel der Zweiheit. Den ersten Weg haben die Atomisten beschritten. Das Bewegende des Geistes haben sie der Materie zugeschlagen und den Rest über Bord geworfen, womit sie zu einem materialistischen Monismus gelangten. Doch die wesentlichen Fragen des Menschen lassen sich so nicht beantworten. Fragt schon der Mensch nicht nach der letzten Einheit, nach letztem Grund und Sinn seines Lebens, so bleibt doch immer noch die Frage nach dem richtigen Leben, zumal er unter Menschen lebt. Dieser Forderung folgte nun wie jeder denkende Mensch auch der Atomist Demokrit und fügte seiner Atomtheorie eine Ethik hinzu, welche aber rein idealistisch ist und keinerlei Beziehung zu seiner Physik besitzt. Es ist leicht einzusehen, dass letztlich jeder materialistische Monist, falls er kein Unmensch ist und ethischen Prinzipien gehorcht, genötigt ist, auf ein dualistisches Flickwerk zurückzugreifen.

Von Thales bis Heraklit gab es überhaupt noch keine Kluft zwischen einem geistigen und materiellem Prinzip zu überwinden, deren Einheit war die selbstverständliche Voraussetzung. Erst Parmenides riss Schein und Sein auseinander und erklärte die Materie zur Illusion — der erste Monismus der gegensätzlichen Art mit dem Primat eines geistigen Prinzips. Um Materie und Bewegung in ihrer Wirklichkeit zu belassen, musste ab nun das Seiende als Mannigfaltigkeit gedacht werden, die 4 Elemente und zwei Kräfte des Empedokles, die Zweiheit der unendlich vielen Teilchen und des Geistes bei Anaxagoras, oder die bewegten Atome des Leukipp. Aber auch die vorherigen Denker waren nicht bloß einfältig. Man denke an die Quantitäten des Anaximenes, die Gegensätze des Anaximander und des Heraklit oder die Mannigfaltigkeiten der 10 Zahlen des Pythagoras. Ohne Vielheit oder Mannigfaltigkeit ist ja Denken offensichtlich nicht möglich, denn Unterscheidung ist seine eigentliche Natur. (Selbst um in das parmenidische eine Sein zurückzukehren, muss zuerst von der trügerischen Vielheit ausgegangen werden.) Die entscheidende Frage ist nur, wieweit die denkerischen Mannigfaltigkeiten einem letzten Urgrund rückverbunden sind. Die Zweifältigkeit, die symmetrischen Gegensätze des Anaximander sind im unbegreiflichen Unendlichen aufgehoben, die des Heraklit entspringen und münden im Werden des feurigen Logos. Und Pythagoras erkennt in der Schöpfung von Mannigfaltigkeiten die Schöpfung selbst, die Zahlen, welche allesamt auf die Null, den unerschöpflichen Urgrund zurückweisen. Jede Zahl, also jede Fältigkeit ist in sich eine Einheit, welche der Null entspringt. Grundlage des All ist hier nicht eine inhaltlich bestimmte Zweiheit, wie etwa besagte Materie und Geist, sondern das Etwas, welches dauernd aus dem Nichts geboren wird, die 1, welche in der schöpferischen 0 ihren Ursprung hat. Aber selbst die 4 Elemente und 2 Kräfte des nachparmenidischen Empedokles schwingen noch in der Einheit der göttlichen Vernunft, und Anaxagoras setzt in seiner Zweiheit den allbeherrschenden göttlichen Geist als Gegenpol zur Materie. Das Göttliche als Urquell aller Mannigfaltigkeit und auch als Ursprung aller Subjekthaftigkeit und allen Sinnes verschwindet jedoch mit den Atomisten Leukipp und Demokrit völlig von der Bildfläche.

Dago Vlasits
Wissenschaft vom Ursprung ist der Ursprung von Wissenschaft · 1994
Studienkreis KRITERION
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